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Aus dem Berner Anzeiger fŸr das Nordquartier

Erinnerungen

 Ändu

Das Schiff gleitet aus der frühen Sonne in den Schatten des anderen Ufers. Zwei Schwäne fliegen flussaufwärts, schön, die Hälse lang ausgestreckt, mit kräftigen Flügelschlägen. Später ein dritter. Er fliegt immer allein. Denselben Weg, dieselbe Richtung im Glitzerlicht des Morgens. Die Nächte sind noch eiskalt. Auf den Weiden liegt Reif, die Pfützen am Abendufer sind gefroren. Doch es ist März geworden.

An einem der ersten Tage dieses Monats haben wir Ändus Asche begraben. Ein wunderschönes In­strumentalstück von Eric Clapton, durch die Seitenfenster der Kapelle drang buntes Licht und ver­breitete Heiterkeit. Vorne im Raum bewirkte indirektes Sonnenlicht eine geheimnisvolle Stimmung. Grosse Schmetterlinge aus einem schimmernden Stoff umschwebten das Weidengebinde und die zu Nestern geflochtenen Zweige. Darin grosse glänzende Kugeln. Wie ein Zeichen dafür, dass alles immer weitergeht. Dass aus den Schalen neues Leben schlüpfen wird, während das alte sich in Erde zurückverwandelt. Ändus Bru­der sprach. Er hielt es aus zu reden, wie es schon in der Todesanzeige hiess: Wir müssen es aushal­ten. Aushalten, dass er gestorben ist. Aushalten, dass niemand genau weiss, wie. Aushalten, dass nie­mand bei ihm war. Aushalten, dass es uns so verfrüht vorkommt. Aushalten, dass sein Tod in man­chem ein Rätsel bleibt, wie davor sein Leben.

Was kann ich, was soll ich noch sagen?

Die Fotos. Das Bild eines hübschen, empfindsam wirkenden jungen Mannes, der von einer Arbeit, einer Beschäftigung weg in die Kamera schaut. „Was ist geschehen“, fragte der Bruder, „dass er sei­ne Sensibilität später so sehr schützen musste?“ Ja, er hatte einen Zaun um sich gebaut. Keinen aus Stacheldraht oder Gitter. Aber einen, der hielt. Der abhielt. Der uns abhielt davon, ganz zu ihm zu gelangen. Der Bruder erzählte von Ändus starken Visionen vom Leben. Und wieder fragte er: „Was war es, das ihn abhielt von dem, was wir alle in uns hell und klar als unseren eigenen Weg spüren?“ Ändu habe gerungen mit der Erdenschwere. „Ich freue mich, dass er diese Schwere nun abgelegt hat“, sagte der Bruder. „Und ich verneige mich vor seinem Leben mit allen seinen Geheimnissen.“

Ändu war ein solidarischer Mensch.
Und er war interessiert an fremden Kulturen. Auch der Bruder berichtete davon. Dass Ändu auf­blühte, wenn er von seinen Reisen nach Ost und Süd erzählte. Dass er die Nähe der Menschen dort suchte. Und fand. Die Nähe der einfachen Menschen. Bei ihnen habe er eine Resonanz gespürt, bei ihnen war ihm wohl.

Ändu hat wenig Persönliches hinterlassen. So wenig er während seines Lebens preisgab, so wenig verrät nun seine Erbe. Der Bruder hielt seine Pässe in den Händen und staunte über die vollen Sei­ten. Visum um Visum, aneinander- und übereinandergestempelt.

Die Urne. Wie ein Krönchen trug sie den kleinen Kranz aus roten Beeren und Blumen. Wir haben sie auf dem schönen alten Schosshaldenfriedhof in die Erde versenkt. Dort, wo die mächtigen Bäu­me stehen, dort wo – in einem Halbkreis aneinandergereiht - viele Namen an Menschen erinnern, die auf der Welt waren und fortgegangen sind. Dort, wo die Blumen für alle blühen und die Kerzen und Lichter allen leuchten. Wir konnten Dir etwas mitgeben ins Grab. Blüten, Erde, Gewürz. Wie uns dünkte. Gewürze, die Du aus vielen Ecken der Erde mit nach Hause brachtest, Du leidenschaft­licher Koch mit Deinem kleinen „Zauberrucksack“. So nannte ihn Dein Bruder und die Bezeich­nung passt. Immer hing er über Deiner Schulter. Deine karierten Hemden, die unverwüstlichen Jeans. Mick Jagger an der Wand und in Deinem Herzen der alte sound. Dein Mütterlein streute Dir Curry ins Grab, „Dein geliebtes Curry“ - die tapfere alte Frau. Wir gaben unsere Teile, blieben noch eine Weile bei Dir und verliessen dann den Ort, wo Deine Asche nun liegt und ruht.

Wir begegneten einander wieder am nächsten Tag. Der Zufall brachte uns zusammen. Silvia, Dei­nen Bruder Beat und mich. Wir sassen in der Frühlingssonne am Fluss, wir tranken Garagenbier, wir as­sen Käse und Brot und wir erinnerten uns an Dich. Ich war in den letzten Monaten Deine Briefträ­gerin gewesen. Einmal, kurz vor Deinem Tod, traf ich Dich auf der Strasse vor Deinem Haus. Wir plauderten ein Weilchen. Du seist krank, sagtest Du, Deine Augen seien entzündet. Der Zeitteufel sass mir im Nacken wie bei der Arbeit immer, ich konnte nicht lange verweilen. Und merkte in den folgenden Tagen, dass Du Deinen Kasten nicht leertest. Das kam mir seltsam vor, doch liess ich es bei diesem unklaren Gefühl bewenden. Und erschrak, als die Kioskfrau kurz dar­auf eines morgens zu mir sagte: „Es ist etwas geschehen im Haus. Die Polizei war da. Es heisst, dass sie eine Wohnung versiegelten. Es muss jemand gestorben sein. Ich bin nicht sicher, wer. Es könnte der“ - nicht der M., bitte nicht der M., dachte ich wider meine Gewissheit - „es könn­te der M. sein“, sagte sie. Und „immer trifft es die Feinen“. Es trifft nicht nur die Feinen. Aber Ändu war ein Feiner. Da gebe ich ihr recht.

„Mir schickte er noch einen Gruss“, erzählte Silvia und lachte. „Ich habe ein wenig Gewürz in die kleine Grube gestreut. Ich weiss nicht, was es war, es war mir unbekannt. Und verlockte mich viel­leicht gerade deswegen. Auf dem Heimweg strich ich mir mit der Hand durch die Augen. Sofort fin­gen sie an zu brennen und durch meine Nase lief ein Feuer. Ein letzter Gruss, so kam es mir vor, und entlockte mir ein Schmunzeln.“ Beat erzählte von Eurer Kindheit, von der Jugend und Euren Träumen. Von den Wegen, die Ihr gingt. Was wir erfuhren, hätten wir zu Deiner Lebzeit nicht erfah­ren. Da war es Geheimnis. Doch dafür warst Du da. Still, solidarisch, lebendig.

Von Tag zu Tag wird der Fluss klarer. Helles gläsernes Frühlingsgrün. In den nackten Bäumen sin­gen die Vögel. Sie werden Nester bauen, es wird Mai und Sommer werden. Herbst und Abschied und wieder kalt. Die Jahre runden sich. Ob wir noch dabei sind oder nicht. Doch sind wir dabeige­wesen. Und das ist nicht bedeutungslos.

Ciao, Ändu, mach's guet! Ja, ich glaube, Du machst es gut.

 

Katle, im März 2012